Stilles Gedenken zum 29. Mai

0
55

Rund 100 Menschen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung gedachten am 29. Mai der 1993 ermordeten Mädchen und Frauen Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç. Am Mahnmal auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufkollegs musste zwar umstandsbedingt Abstand gehalten und auf Redebeiträge verzichtet werden, jedoch war es den zahlreichen Anwesenden ein Bedürfnis, an der Seite der Familie Genç innezuhalten und beizustehen. Die Entscheidung das Gedenken an den Brandanschlag von 1993 in diesem Jahr in dieser Form durchzuführen, fiel in einer Sitzung des Beirates des Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage, der die Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Stadt Solingen, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und der DiTiB organisiert. An der Seite von Oberbürgermeister Tim Kurzbach, der die Anwesenden zu einer gemeinsamen Schweigeminute einlud, gedachte erstmals die seit 2019 im Amt befindliche Generalkonsulin Ayşegül Gökçen Karaarslan den Opfern des Mordanschlags.

Gedanken des OberbĂĽrgermeisters (Quelle solingen.de):

“Liebe Solingerinnen und Solinger,

der 29. Mai gehört normalerweise zu den Gedenktagen, an denen unsere Stadtgesellschaft enger zusammenrückt. Denn an diesem Tag jährt sich der Gedenktag an den Solinger Brandanschlag von 1993 zum 27. Mal. Drei Mädchen und zwei junge Frauen starben an diesem Tag durch rechtsextremistische, rassistisch motivierte Gewalt. Das Verbrechen macht uns auch in der Erinnerung immer wieder sprach- und fassungslos, verübt von jugendlichen Tätern aus unserer Klingenstadt. Sie suchten sich unschuldige Opfer und zerstörten das Leben einer unbescholtenen Familie, indem sie mitten in der Nacht ihr Haus anzündeten; einfach nur, weil sie Einwanderer waren.

In den Flammen starben:

  • GĂĽrsĂĽn Ince
  • Hatice Genç
  • GĂĽlĂĽstan Ă–ztĂĽrk
  • HĂĽlya Genç
  • Saime Genç

Wir trauern mit ihrer Familie um sie und werden sie nicht vergessen.

Körperlich enger zusammenrĂĽcken dĂĽrfen wir in diesem Jahr nicht. Auch nicht am Mahnmal an der Mildred-Scheel-Berufskolleg, wo wir im Anschluss an die Ansprachen, Gebete und die Schweigeminute sonst immer miteinander ins Gespräch kommen oder auch einander in den Arm nehmen. Denn wir mĂĽssen Abstand halten, auch in einem Moment, in dem es uns immer wichtig, war, Distanz zu ĂĽberwinden, Distanz gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ein Virus hat uns die „Regie” aus der Hand genommen. Gemeinsam mit der Familie Genç haben das BĂĽndnis fĂĽr Toleranz und Zivilcourage – das BĂĽndnis koordiniert das Gedenken – und die Stadt Solingen beschlossen, das Gedenken 2020 nur als stilles Erinnern ohne Reden und als Schweigeminute stattfinden zu lassen. Denn wir dĂĽrfen niemanden der Gefahr aussetzen, sich bei unserer Versammlung mit dem Covid-19-Virus zu infizieren. Allerdings kann und darf es fĂĽr mich auch in diesen schwierigen Zeiten kein Aussetzen oder Verschieben des Gedenkens geben.

Der Erfolg von Verschwörungstheorien zeigt, wie wichtig Erinnern und Aufklären ist.

Das Virus legt aber auch offen, wie notwendig unsere jährliche Erinnerungsarbeit und unser Appell für Humanität und gegen Vorurteile sind. Denn die ewig Gestrigen und neue rechtsradikale Wirrköpfe nutzen jede Möglichkeit zur Agitation. Ganz aktuell können wir Versuche von Rechts beobachten, die Pandemie zu benutzen, Keile in unsere friedliche und vielfältige Gesellschaft zu treiben. Unter dem Vorwand, die Grundrechte gegen überzogene staatliche Corona-Maßnahmen zu verteidigen, versuchen sie, verunsicherte, enttäuschte und verärgerte Bürgerinnen und Bürger zu unterwandern und unter ihrer Fahne zu versammeln. Das passiert nicht im Geheimen, sondern ganz öffentlich: ein bundesweit bekannter Verschwörungstheoretiker und durch antisemitische Äußerungen aufgefallener Journalist war der Hauptredner bei einer Demonstration gegen die Coronabeschränkungen mit vielen tausend Menschen in Stuttgart vor wenigen Wochen. Die Corona-Pandemie ist aber nur die Tarnung für das Projekt, rechtsextremistische Narrative von Weltverschwörungen und angeblichen Schuldigen in den Köpfen der Menschen zu verankern.

Auch in Solingen gab es den Versuch, eine ähnliche Demonstration zu organisieren und eine Bewegung in Gang zu setzen, doch es blieb sehr kleines GrĂĽppchen, von dem niemand wirklich Notiz genommen hat. Solingen ist Gott sei Dank bunt statt braun – und das bleibt so. Und das ist auch gut so. Die Stadt Solingen setzt sich fĂĽr ein tolerantes Miteinander ein, sie hat ein Handlungskonzept gegen Rassismus entwickelt, an dessen Umsetzung intensiv gearbeitet wird.

Deshalb wird auch die Verleihung des Ehrenpreises fĂĽr Zivilcourage „Der Silberne Schuh” 2020 nicht ausfallen, sondern nachgeholt, sobald größere Veranstaltungen wieder zulässig sind. Denn die Botschaft der Auszeichnung wirkt gegen das Vergessen und wirbt fĂĽr aktives Engagement: Sie enthält den Appell, sich fĂĽr die demokratischen Werte der Gesellschaft einzusetzen und so gegen Rassismus und Ausgrenzung einzutreten. Wir in Solingen werden nicht zulassen, dass noch einmal ein Klima entstehen kann, in dem brutale Gewalt gegen Mitmenschen möglich wird.

Es ist umso wichtiger, dass wir als Menschen in der Klingenstadt dieses Signal immer noch und immer wieder in das Land und in die Welt senden. Denn, wie eben dargestellt, die Feinde der offenen und toleranten Gesellschaft schlafen nicht. Wir mĂĽssen wachsam sein und dem immer wieder aufkeimenden Antisemitismus und dem Rassismus unser „Nie wieder” entgegenhalten. Denn wir sind mehr – auch und gerade in diesem Corona-FrĂĽhling!

“Lasst uns Freunde sein”. Die Friedensbotschaft von 1993 bleibt aktuell.

Streuen wir den Samen aus, der unsere Stadt so schön und liebenswert macht: den Samen der Nächstenliebe, der Toleranz, des Dialogs und der Freundschaft. MevlĂĽde Genç hat es uns vorgemacht. Die Mutter, GroĂźmutter und Tante der Toten hat den Menschen in dieser Stadt vor 27 Jahren, noch unter dem Eindruck des Mordanschlags, die Hand gereicht und den versöhnenden, wunderbaren Satz formuliert: „Lasst uns Freunde sein!”.

Diese Friedensbotschaft von MevlĂĽde Genc ist uns bis heute Auftrag, nicht nur an Gedenktagen:

Ein Beispiel dafĂĽr, wie wir den Auftrag umsetzen, ist das Landesprogramm „NRWeltoffen”, an dem Solingen seit drei Jahren teilnimmt. Neben dem Bundesprogramm „Demokratie leben!” und der „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage” ergänzt es das Engagement der Solinger Zivilgesellschaft. Ziel von NRWeltoffen ist die Entwicklung eines Handlungskonzeptes zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten in unserer Stadt. Gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Es geht um konkrete Arbeit in und mit Schulen, mit Jugendlichen, es geht darum, eine Kultur des Zusammenlebens aufzubauen – sei es in der Arbeitswelt, sei es im Sportverein. Die Stadt Solingen in Form des Stadtdienstes Integration und das Diakonische Werk arbeiten in diesem Prozess Hand in Hand. Wir teilen die Vision einer vielfältigen Stadtgesellschaft, an deren Segnungen und an deren Gestaltung alle teilhaben sollen. Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Selbstbestimmung fĂĽr alle Solingerinnen und Solinger – das sind unsere Leitsterne.

Ein anderes Beispiel: Das Kunst-Projekt „Heim-Art”, das am Wochenende nach Pfingsten im Proberaumhaus „Monkeys” stattfindet. Zwei junge KĂĽnstler wollen das Erinnern an Vergangenes in einem Workshop fĂĽr junge Menschen produktiv fĂĽr die Zukunft machen. Der Comedian Khalid Bounouar und der Filmemacher Mirza Odabasi („93/13 – Zwanzig Jahre nach Solingen”) zeigen Jugendlichen, wie sich erlebte Diskriminierung kĂĽnstlerisch aufarbeiten lässt. Die Teilnehmenden setzen ihre Erfahrungen selbst in Kunst um. Es kann ein Gedicht sein, es kann aber auch eine Fotografie oder ein Film dabei entstehen. Auf die Ergebnisse dĂĽrfen wir gespannt sein. Ausrichter ist die AWO Arbeit und Qualifizierung.

Solche lebendigen, innovativen Projekte braucht unsere Klingenstadt, ja, unser Land, um klar zu machen: Wir leben hier! Alle gehören zusammen! Deutschland ist unsere Heimat. Egal, ob die eigenen Wurzeln in Ohligs, Gräfrath, Anatolien oder Syrien liegen: Wir sind Solingen! So sind wir: Menschen in Solingen und in der einen Welt.

Ihr

Tim-O. Kurzbach
OberbĂĽrgermeister”